Am Ende meiner Schulzeit besprachen wir den Holocaust. Früher hätte mich das sehr gefreut, da ich das Thema als sehr wichtig und interessant empfand. Im Verlauf dieses Schuljahres hat sich jedoch etwas in mir verändert: Ich bin immer noch der Meinung, dass die Menschen als Gesellschaft den Holocaust nicht vergessen dürfen. Doch finde ich, dass nicht jeder zu jedem Zeitpunkt bereit sein muss, das Thema zu besprechen. Dies hat für mich nichts mit Verdrängung oder Schwäche, sondern mit Selbstliebe zu tun. Solch ein Thema geht nicht spurlos an einem vorüber, und nicht immer hat man die Kraft, sprich die nötige Stabilität dazu. So ging es mir dieses Jahr, und ich fragte deshalb meinen Lehrer um Hilfe: Ich fragte ihn, ob ich einen anderen Auftrag bekäme. Als ich die Antwort bekam – dass er eigentlich keine Ausnahme machen dürfe, aber ich ihm einen Vorschlag geben solle – brach für mich kurz eine Welt zusammen. Ich glaube, dass ich von solchen Aussagen langsam enttäuscht bin. Anfangs des Schuljahres bekam ich vom Gymnasium einen Brief. In dem Brief stand: "Bitte lassen Sie uns wissen, wenn wir als Schule Sie unterstützen können". Doch immer wenn ich auf die Lehrpersonen zugegangen bin, stieß ich auf Ablehnung*. Ich fühle mich, grob gesagt, verarscht.
Da aber meine Zeit am Gymnasium bald vorbei ist – endlich! –, möchte ich hier noch niederschreiben, was ich mir von der Schule insbesondere von den Lehrpersonen nach dem Tod meines Vaters gewünscht hätte.
Ich wünsche mir, dass mein Klassenlehrer direkt meine Lehrpersonen über den Tod meines Vaters informiert hätte. Dies hätte mir vieles erspart, denn das Letzte, was ich wollte, war, bei jedem Lehrer hinzugehen und sagen zu müssen: «Mir geht es nicht gut, da mein Vater in den Sommerferien gestorben ist.» Ich wusste nicht einmal, wie ich den Tod meines Vaters meinen Klassenkameraden mitteilen sollte – in den Klassenchat schreiben (Hi i ha öich nume schnäll wöuwä sägä, ds mi Per tod isch. Euch no schöni Ferie) fühlte sich nicht richtig an. Auch hätte ich mir gewünscht, dass am ersten Schultag mein Klassenlehrer mich nach meinem Befinden gefragt hätte. Oder wenigstens, ob er mich in irgendeiner Weise unterstützen könnte. Mir hätte es gutgetan, zu wissen und vor allem zu fühlen, dass ich aktive Unterstützung von der Schule bekäme. Denn die Kraft, um Hilfe zu bitten, hatte ich nicht. Dieser Wunsch wurde von meiner Englischlehrerin erfüllt, wofür ich ihr unendlich dankbar bin. Sie war offen, hörte mir zu – etwas, das ich nicht von meiner Familie behaupten kann – und vorausdenkend. Ich wünschte, alle Lehrpersonen wären so.
So hatte ich keine Kraft, ein Buch über den Tod eines Elternteils und die gesellschaftliche Verachtung seines Trauerprozesses zu lesen. Ich weiss, dass jeder ein eigenes Leben hat. Doch ich hätte mir gewünscht, dass die Lehrperson mich vorgewarnt hätte (denn ich war im ersten Moment überfordert) oder zumindest mich beim Zeitpunkt ihrer Realisation darauf angesprochen hätte.
Auch wünsche ich mir, dass die Lehrer verstehen, dass ein Todesfall nicht nach der Beerdigung aufhört. Mein Bruder und ich sind nun schon fast ein Jahr mit der Räumung der Wohnungen (denn mein Vater hatte zwei) beschäftigt. Vielleicht dauert dieser Prozess länger als gewohnt, da mein Vater in seinen letzten zwei Jahren manisch war und Unmengen an Sachen kaufte (hier spreche ich von 150 Flöten, 10 Gitarren, 8 E-Bikes, 4 E-Pianos usw.).
Ich empfand es immer als Ablehnung meiner Bedürfnisse, wenn es hieß, dass ich für die Räumung meine Halbtage brauchen sollte. Denn sind diese nicht dafür da, in den Europapark zu gehen oder für die Schule zu lernen? Glauben Sie mir, ich möchte diese Wohnungen nicht räumen, ich will nicht, dass mein Vater tot ist. Noch weniger kann ich etwas dafür. So schulde ich niemandem irgendetwas, wenn ich ein Buch nicht lesen oder eine Situation nicht besprechen kann.
Ich wünschte, Lehrpersonen würden ein einfaches «Ich kann nicht» akzeptieren. Das allein sollte Grund genug sein, etwas nicht tun zu müssen.
Aber am meisten wünsche ich mir, dass Lehrpersonen aufhören würden, über die Schüler zu urteilen. Sie haben keine Ahnung, was sich in meinem Leben abgespielt hat, also urteilen Sie nicht voreilig. Vielleicht wirke ich auf Sie, als ob ich meine Situation ausnütze. Aber Sie wissen nicht: Als meine Eltern sich trennten und meine Mutter Krebs hatte – den mein Vater nicht anerkannte –, ich zerbrach und trotzdem ohne Rücksicht weitermachte. Als mein Grossvater Exit gemacht hat und einen Tag nach der Beerdigung mein anderer Grossvater einen Herzstillstand hatte – er hat überlebt :) –, ich weitermachte .
Als mein Vater einen Suizidversuch hatte, ich weitermachte. Als ich zwei Wochen später bei ihm Mittagessen ging und sich etwas ganz falsch anfühlte (damals wusste ich nur, dass er viel getrunken hatte), ich weitermachte. Als er die nächsten zwei Jahre in der Klinik war, ich nichts dergleichen tat. Als er von der Depression in die Manie wechselte, ich weitermachte. Als er mich 15-mal während eines Schultages anrief und mich zusammenschiss, weil ich nicht für ihn einkaufen ging, ich nichts dergleichen tat (das war vor zwei Jahren).
Als er bei mir anrief, um über meinen Bruder zu lästern – er war der Einzige, der meinem Vater noch beistand –, ich weitermachte. Als mein Bruder in eine schwere Depression fiel, was meine Mutter überforderte und die beiden jeden Abend stritten, ich weitermachte.
Doch als mein Vater starb – ein Vierteljahr, nachdem er das erste Mal für mich ein Vater war –, konnte ich nicht mehr weitermachen; ich war am Ende. Wieso urteilen dann Lehrpersonen über mich?
Ich wünschte, alle wären lieber zueinander, denn wir haben keine Ahnung, was sich beim Gegenüber abspielt.
Quellen Bild: Pink Floyd Wish You Were Here: An Iconic Album Poster
*ausser bei meiner Englischlehrerin und später meinem Klassenlehrer